Wir sind gerade aus Leer raus, das sagt ein Mädchen hinter mir im Bus zu ihrer Freundin: „Hier oben ist es so schön, verdammte Axt!“ Einfach so, ganz unironisch: „verdammte Axt“, als hätte es das letzte Jahrzehnt nie gegeben.

   Sie fängt an zu erzählen. Letztes Jahr habe sie ein paar Monate einen intensiven Kinderwunsch gehabt – „starkes Gebärmutterkratzen“ nennt sie das. Das finde ich Wahnsinn, so alt wie ich und schon Kinderwunsch. Wobei, eher noch jünger, gerade zwanzig und Kinderwunsch. Wahnsinn. Jetzt sei sie sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt Kinder wolle, zu schwer die Unterscheidung zwischen eigenen und „implementierten“ Gedanken. Wieder so ein Ausdruck: „implementierte Gedanken“, als hätte man ihr bei der Geburt einen Chip in den Frontallappen gestanzt. So meint sie es natürlich nicht. Sie habe bloß Angst, dass all ihre Wünsche und Träume nicht ihre eigenen, sondern fremde sind, eingepflanzt von Mama, Papa und diversen Hollywood-Produktionen, die einem ja quasi mit dem Füllstutzen verabreicht würden. Ob das überhaupt einen Unterschied macht, fragt sie sich nicht.
   Was folgt, weiß ich nicht. Ich bin mit meinen Gedanken woanders oder sie schweigen, ich bin mir nicht sicher. Irgendwann aber wieder deutlich: es falle ihr schwer, die Zukunft zu sehen, das heißt, sich in der Zukunft zu sehen. Nun das erste Mal eine längere Antwort von ihrer Freundin. Sie hätte nichts gegen das Leben ihrer Eltern: Haus auf dem Land, drei Kinder, Lehrer. Kleinbürgerlich also, das sagt sie aber nicht. Mehr wüsste sie nicht von der Zukunft. Ich glaube, mehr wünscht sie sich auch nicht und woher dieser Wunsch kommt, ist ihr völlig egal.

   Das Mädchen antwortet, sagt, das sei selbstverständlich nicht ihr „place to judge“. Sie atmet hörbar ein, schweigt kurz – Kunstpause quasi. Dann judget sie selbstverständlich trotzdem, sagt, ein solches Leben klinge für sie nach einem verwirkten Leben; spricht von Möglichkeiten, also nicht von konkreten, sondern einfach so im Generellen, so viele Möglichkeiten, zu viele Möglichkeiten und daher die Zukunft unvorstellbar.
Dann wieder der Blick aus dem Fenster, obwohl ich das nicht wissen kann, aber es klang nach Fenster und: „Es ist so schön hier oben. Kann es irgendwo schöner sein?“ Einfach so, ganz unironisch in die unendliche Öde Ostfrieslands.
   Ich schaue auch aus dem Fenster, sehe das flache grüne Land, Bäume spärlich wie in der Wüste schmiegen sich an die Entwässerungsgräbern, die die endlose Landschaft in überschaubare Rechtecke unterteilen, dazwischen matschige Bauernhöfe und über allem der graue Himmel niedrig und eng wie ein Plattenbau. Wobei, tatsächlich lassen sich einzelne Wolken unterscheiden, als würden sich meine Augen an Dunkelheit gewöhnen, schimmern schwach Konturen auf, leuchten bald in seichtem Gelb; das Grau dazwischen nun tiefschwarz, kurz sieht es nach Sturm aus. Der Himmel wächst vor meinen Augen, wird ganz groß; die Wolken brechen auseinander, türmen sich zu gigantischen Massiven; darunter das Land nur noch ein schmaler grüner Streifen wie auf Zeichnungen aus dem Kindergarten; einsame Lichtstrahlen sinken durch die tiefen Schluchten zu Boden.

   Mir kommt „Arbeit und Struktur“ von Herrndorf in den Kopf. Vorn auf dem Cover eine Landschaft von Ruisdael – Harlem, glaube ich, habe ich alles mal gegoogelt. Darauf Wolken zwischen leichtem Blau und darunter ein grüner Streifen, Felder und Bäume, und auf dem Horizont die Stadt, kaum vom Rest zu unterscheiden. Manchmal hole ich das Buch noch aus dem Schrank, nur um in diese Landschaft zu schauen, das heißt auf die Wolken, diese unmöglichen Wolken, unter denen die Landschaft zusammenschrumpft. Ich schaue sie an und kann es nicht glauben. Und jetzt das. Ich schaue immer noch aus dem Fenster; was das Mädchen sagt, weiß ich nicht. „Verdammte Axt“, denke ich „kann es irgendwo schöner sein?“

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