„Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“
- Rudi Schuricke Capri Fischer 1943 –

Der Himmel, das hieß für mich immer: Lanzarote. Ich bin schwer katholisch erzogen worden, das muss ich dazu sagen, sonst ergibt das jetzt wenig Sinn, was ich hier erzähle. Kirche jeden Sonntag, Messdienern wo geht und wenn es ernst wurde auch mal eine Prozession. Kein Wunder also, dass ich lange selbst an das ganze Zeug glaubte. Wobei mir schon klar war, dass man aus einem Fisch keine hundert macht und Auferstehung nur in Mittelerde klappt - da muss jetzt niemand mit den Augen rollen - aber im Großen und Ganzen hat mir das schon eingeleuchtet. Also vor allem, dass nach dem Tod nicht einfach Ende ist, dass da noch was kommen muss. Klappe zu, Affe tot und dann das große Nichts, das kam mir ganzschön blödsinnig vor. Was soll das denn schon sein „Nichts“? Da kann sich doch kein Mensch was drunter vorstellen.

   Wie ich mir das Paradies nun aber vorzustellen hatte, wusste ich auch nicht so recht. Einen Garten hatten wir ja schon zu Hause, und meine Oma erst, da waren die Äpfel nicht verboten, da durfte man essen, so viele man wollte, und auch dieses ganze 24/7 Blätter im Schritt kam mir wenig paradiesisch vor. Da fand ich die Vorstellung mit den Wolken schon überzeugender, leider hatte Juri Gagarin die schon lange vor meiner Geburt widerlegt, zum Ruhme des Kommunismus und im Namen des Friedens aller Völker.

   Genau an dieser Stelle kam dann Lanzarote ins Spiel, also erst einmal Capri. Spätestens seit Rudi Schuricke mitten im Krieg dessen rote Sonne besang, war die Insel deutscher Sehnsuchtsort Nummer eins. Als Rudolf Wild 1969 dann erstmals die Isolierung des Wirkstoffs der Frucht des Orangenbaumes gelang, wusste er sofort, wie seine Entdeckung heißen sollte: „Capri-Sonne“.
Zeitenwende 1969, ein magisches Jahr. Hochsommer. Übermüdet und aufgekratzt, den Schweiß auf der Stirn sitzt ein kleiner Junge vor dem Fernseher, mitten in der Nacht. Das darf er nur im Urlaub, am Bodensee vielleicht, die Brennerautobahn wird immerhin erst in zwei Jahren fertiggestellt. Hinter ihm seine Eltern auf einem beigen Sofa - generell alles beige, beige und braun, so stelle ich mir das zumindest vor, sehr sepia -, doch er sitz auf dem Boden, ganz nah dran, dass sich die krausen schwarzweiß Bilder vom Mond in seinen Augen spiegeln. Er atmet leise durch den leicht geöffneten Mund und als die Hitze dann nicht mehr zu ertragen ist und die amerikanische Flagge im Wind weht, sticht er den Strohhalm durch das kleine Zellophanloch, als bohre er nach Öl, und saugt daran, bis ein Vakuum entsteht. Ein kleiner Schluck für einen Jungen, ein großer für die Menschheit.

   Der Geschmack war undefinierbar: Fernweh, Eskapismus und die blasse Erinnerung an etwas, das längst verloren ging - Klassische Schlagerformel also. So versprach es zumindest die Werbung. Statt zerbombten Ruinen entfloh die Jugend nun aber der Wohlstandsverwahrlosung der aufstrebenden Bundesrepublik. Und weil sich an der in den nächsten drei Jahrzehnten nicht viel änderte, wurde auch an der Formel nicht gerüttelt.

   An die Werbung, die ich Mitte der 00er Jahre täglich sah, erinnere ich mich daher etwa so: An einem endlosen Strand spielen Kinder in Badehosen Fußball; im zu blauen Wasser hinter ihnen springen Delfine; die Sonne küsst die braunen Gesichter, keine Sonnencreme, keine Käppis. Schnitt auf eine Palme, darunter ein Tisch voll Obst, Orangen, Äpfel, Trauben und Wassermelonen so groß wie die Kinder, und dazwischen, genau in der Mitte, eine riesige Schatztruhe voll Eis und silbrig glänzender Trinkpäckchen. Aus dem Off spricht eine körperlose Stimme, sehr tief, sehr bedacht: Lanzarote.

   Lanzarote, Himmel auf Erden! Und das Beste war, für diesen Himmel brauchte man nicht erst zu sterben, nicht mal seinen Nächsten musste man lieben und jeden Sonntag in die Kirche gehen schon alle Male nicht. Es reichte vollkommen aus, sein gesamtes Taschengeld am Kiosk in Capri-Sonne zu investieren und darauf zu hoffen, dass man irgendwann den magischen Strohhalm finden würde. Der wechselte beim Trinken die Farbe von Orange zu Rot, was auch nicht viel schlechter ist, als die Nummer mit dem Wasser und dem Wein. Bis man dieses goldene Ticket ins gelobte Land fand, blieben einem immer noch die kleinen silbrigen Päckchen voll Fernweh und Eskapismus.

   Ich habe den verdammten Strohhalm natürlich nicht gefunden. Wahrscheinlich hat ihn nie irgendwer gefunden. Übrig blieb eine Vorstellung vom Himmel, die mir einfach einleuchtete. Ich glaubte also weiter an das ganze Zeug, ging Sonntags zur Kirche und wartete gespannt auf das Leben nach dem Tod, das noch so unendlich weit weg schien, dem ich durch den Verzehr rauer Mengen Capri-Sonne jedoch täglich etwas näher kam.

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