Das erste Mal habe ich wegen Fußball geweint, da war ich acht. Mit sechs hatte ich angefangen selber zu spielen, also so richtig im Verein, aber dass ich da auch mal ein Spiel geschaut hätte, daran kann ich mich nicht erinnern. Erinnern kann ich mich erst an Deutschland-Costa Rica WM 2006, da war ich acht, wie gesagt.
Ich sah das Spiel mit meinem Vater und einigen seiner Freunde. Ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte, doch als Philipp Lahm schon nach wenigen Minuten zum Schuss ansetzte und die Arme hochriss und die Erwachsenen um mich herum in Jubelschreie ausbrachen, da musste mir das niemand mehr erklären, also dass da die Stadien so voll waren und alle darüber redeten und überall Fahnen und Trikots und jeden Tag Sonne und 30 Grad. Das war ja jetzt ganz klar alles, Fußball eben, so einfach ist das, Fußball und sonst nichts. Das geht als Kind ja sehr schnell manchmal, so von null auf hundert alles, gerade noch fremd, dann Lebensmittelpunkt - das passiert mir heute nur noch, wenn ich mich verliebe.
Geweint habe ich da also noch nicht, das kommt ja immer erst später. Am 4. Juli war das. Halbfinale. Deutschland-Italien. Signal Iduna Park Dortmund. Anstoß 21:00 Uhr.
Ich sehe das Spiel nicht mit Papa, der ist im Stadion. Ich sitze zuhause auf dem Teppich direkt vorm Fernseher, Mama hinter mir auf der Couch. Schon vor dem Spiel bin ich wahnsinnig aufgeregt, als es dann aber losgeht, verfalle ich in so eine Art nervösen Rausch; alle Erinnerungen an das Spielgeschehen daher zerstückelt und weggebrannt wie nach einem Unfall. Nur wie es mir dabei geht, das weiß ich noch sehr genau.
Jede Minute ohne Entscheidung zehrt an meinen Kräften. Nicht zu wissen, wo man steht, diese Schwebe, diese Unwissenheit, das ist das Allerschlimmste. Ein Tor will aber einfach nicht fallen und so zittere ich weiter, fast wünsche ich mir ein Gegentor, nur damit es endlich vorbei ist. Über dem Platz steht die Sonne hoch und heiß am Himmel. Erst als der Schiedsrichter abpfeift fällt sie erschöpft hinter den Horizont und das Flutlicht geht an. Auch ich bin vollkommen fertig. Herzrasen und Adrenalinschübe über so eine lange Zeit, dafür ist der Mensch einfach nicht gemacht.
Die Verlängerung dann die reinste Folter. Alles fühlt sich so zerbrechlich an, die Welt wie aus Glas, selbst meine Haut und meine Muskeln ganz fein und spröde und nur mein Herz wie ein Hammer unaufhörlich von Innen dagegen. Ich habe Angst, ich könnte alles in Scherben gehen lassen, also versuche ich mein Herz zu beruhigen, konzentriere mich darauf, es zu langsamer schlagen zu lassen, doch bei jedem Fehlpass der Deutschen, bei jedem Angriff der Italiener setzt es kurz aus, nur um dann mit doppelter Härte wieder loszuschlagen.
Je näher der Abpfiff rückt, desto langsamer verrinnen die Sekunden. Auf der Uhr stehen noch zwei Minuten, es könnten auch Jahre sein. Und dann, genau dort, wo die Zeit stillzustehen droht, sind da doch noch Erinnerungen, abgehackte Bilder, die durch meinen Kopf zucken, wie die Erinnerungen von Brad Pitt an seine Frau am Ende von „Sieben“: Das bleiche Grün des Rasens im Flutlicht, tiefblaue Trikots, der Ball in der Luft wie in Zeitlupe, darunter in glänzendem Himmelblau Jens Lehmann, schreiende Männer, in den Himmel gereckte Fäuste, hängende Köpfe, Abspann. Die Bilder sind ganz klar und irgendwie übergroß, wie in Cinemascope aufgenommen, doch dann wird alles trübe, das zweite Tor sehe ich gar nicht mehr, zu viele Tränen versperren die Sicht.
Ich schluchze laut, schüttele mich unkontrollierbar und bin untröstlich. Das sagt man ja manchmal so „untröstlich“, selbst wenn es gar nicht stimmt, ich bin es aber wirklich, so richtig Duden-mäßig. Mama versucht echt alles, aber nichts hilft. Rotz und Tränen laufen mir durchs Gesicht und unaufhörlich verlange ich, Papa zu sprechen. Das Problem ist nämlich, Mama ist das mit dem Fußball alles wahnsinnig egal und das macht gerade alles nur noch schlimmer - also dass da niemand ist, der mich versteht, der versteht, warum das so schrecklich ist, was hier gerade passiert. Weil ich aber selbst gar nicht genau weiß warum und weil ich keine Worte dafür finde, weine ich eben noch heftiger weiter und hoffe, dass das alles erklärt.
Papa ist jedenfalls nicht zu erreichen und so bringt Mama mich irgendwann ins Bett. Schlafen will ich aber nicht. Schlafen ist für Gewinner, ein Luxus ist das, den ich mir nicht leisten kann. Ich liege also da in meinem roten Deutschland-Trikot und drücke mir meinen Teddy ins Gesicht. Die Nachttischlampe wirft ein warmes Licht auf meine Janosch-Decke und die Hanuta-Sticker von Schweinsteiger und Podolski. Meine Mutter sitzt auf der Bettkante und streichelt über die großen abgerundeten Lettern des “Lahm“-Schriftzugs auf meinem Rücken.
Ich weiß nicht, wie lange ich so liege, vermutlich mehrere Wochen, so fühlt es sich zumindest an, dann klingelt das Telefon. Sofort werde ich etwas ruhiger. Mama stellt auf Lautsprecher. Am anderen Ende ist erst nur Lärm zu hören, Schritte, Autos, Stimmengewirr, entfernte Gesänge, dann meldet sich Papa. Ich freue mich kurz, doch als ich höre, wie er spricht, macht das alles nur noch schlimmer. Denn ganz normal redet er, kein Schniefen, kein Wimmern, nur etwas leiser als sonst vielleicht. Als er hört, wie es mir geht, spricht er ein bisschen über das Spiel, dass es ja wirklich sehr knapp gewesen sei und die Deutsche Mannschaft echt alles gegeben habe und so weiter, dann macht er Pause, doch weil ich nicht antworte, redet er noch ein bisschen weiter, erzählt von der Stimmung und den Zuschauern und wie die Mannschaft trotzdem gefeiert werde und als ich dann immer noch nichts sage und aus seinem Handy nur ab und an ein Schluchzen kommt, sagt er: „Aber David, Fußball ist doch kein Grund zum Weinen.“
Da höre ich wirklich auf mit dem Weinen, allerdings aus reiner Verwirrung. Papa hatte doch gejubelt, als Lahm gegen Costa Rica traf; er war doch dabei gewesen, als Odonkor wie Sonic als Schliere auf der Außenbahn auftauchte und Neuville in der Mitte reingrätschte; er hatte doch selbst gesehen, wie Jens Lehmann die Weltformel von einem kleinen gelben Zettel las? Wie kann er das alles sehen und da noch behaupten, Fußball wäre kein Grund zum Weinen?
Überrascht davon, dass ich wirklich nicht mehr schluchze, weiß Papa nicht mehr, was er sagen soll. Wir schweigen also beide und damit wir auch nicht das Gefühl bekommen, wir müssten jetzt irgendwas sagen, spricht einfach jemand anderes. Eine Stimme aus dem Lärm im Hintergrund, männlich, etwas älter als mein Vater vielleicht, dabei jedoch dumpf und verzerrt und alle Worte halb verschluckt, sehr angestrengt klingt das: „Fu-ball is- wohl ein Grun- zum Wein-!“
Da lacht Papa ein bisschen und ich lache auch. Gleichzeitig aber wird mir etwas klar: Alle Dinge, die es wert sind, euphorisch zu werden – und das sind eine ganze Menge - sind es auch wert, um sie zu weinen! Wirklich ganz klar wird mir das da, also nicht so Wandtattoo-mäßig klar, wie es da jetzt steht, das wäre viel verlangt von einem Achtjährigen, sondern mehr so als Gefühl irgendwo zwischen Brust und Bauchnabel, so als Druck hinter den Augäpfeln. Und wie mir das klar wird und weil ich nicht weiß, wie ich Papa das anders erklären soll, fange ich eben wieder an zu weinen.
Beim Spiel gegen Portugal vier Tage später ist das schon wahnsinnig weit weg, die ganzen letzten Wochen sind es eigentlich, sehr surreal fühlt sich das an. Ich zucke zusammen, wenn Portugal aufs Tor zuläuft, ich jubele, wenn Deutschland trifft, doch es fühlt sich falsch an, mein Herz will einfach nicht hämmern, die Welt um mich nicht zu Glas werden. Sinnlos alles, vollkommen sinnlos, alles vorbei und vergeben und egal. Ganz hohl werde ich da, fast wie Traurigkeit fühlt sich das an, doch das ist es nicht, nicht einmal weinen kann ich, so leer bin ich. Ich nehme alles zurück von wegen das Allerschlimmste ist die Unsicherheit. Das Allerschlimmste ist diese Leere, diese absolute Leere, keine Euphorie, keine Unsicherheit, keine Tränen, kein gar nichts. Nur Leere und irgendwo tief drinnen die aufkeimende Angst, es könnte immer so bleiben.




